Friedrich Nerly:
Von Erfurt in die Welt
14. Mai 2025,
Geschrieben von PEACH
Die Romantik ist eine
Epoche, zugleich aber
auch mehr.
Über ihre historische Verortung im 19. Jahrhundert hinaus steht sie für eine überzeitliche Neigung, die Welt in einer schwer bestimmbaren Weise zu sehen: irgendwie schwärmerisch, stimmungsvoll, gefühlsbetont, von einer übersteigerten Einbildungskraft ins Geheimnisvolle und Träumerische geführt. War für Aufklärung und Klassik die Sonne das Sinnbild für Rationalität und Klarheit, so tritt für die Romantiker das Unbewusste, Irrationale, kurz: die Nachtseite mit dem silbrigen Schein des Mondes in den Vordergrund.
Die soeben in Erfurt zu Ende gegangene Ausstellung eines großen Sohnes dieser Stadt ist ein Beweis für die Gegenwärtigkeit dieses romantischen Weltgefühls. Die lang vorbereitete Präsentation des Malers Friedrich Nerly fand in den vergangenen Monaten solchen Zuspruch, dass sie nun verlängert wurde.
Das dortige Angermuseum hat seine Gründung im Jahr 1886 nicht zuletzt dem Nachlass dieses Malers zu verdanken, den dessen ebenfalls malender Sohn im Jahre der Stadt überließ. – Grund genug für unseren Mitarbeiter Walter Kayser, der Frage nachzugehen, was das Werk dieses Malers ausmacht und warum es sich lohnt, es neu zu bewerten.
Die Lagunenstadt Venedig, dieses schwimmende »Seeräubernest«, das sich als Diktatur eine »Republik« nannte, hat nicht nur eine einmalige Lage, sondern auch eine über tausendjährige Geschichte, welche sich höchstens mit der Kontinuität des Papsttums in Rom vergleichen lässt. Es ist schwer bestimmbar, seit wann die »Serenissima« nicht nur durch ihre Heiterkeit, sondern auch durch ihren malerischen Verfall anzog. Seit langem ist die Faszination untrennbar mit ihrem langsamen Tod und einem anhaltenden morbiden Ästhetizismus verbunden. Immerhin wird sie Jahr für Jahr von mehr als zwei Millionen Touristen überschwemmt, welche die Gassen zwischen Markusdom und Rialto wuselnd verstopfen und das Sterben dieser Stadt mit zerstörerischer Vitalität begleiten.
Wurde Venedig 1797 durch Napoleon der Todesstoß versetzt? Oder geschah das nicht schon viel früher durch einen internationalen Tourismus? Charles des Brosses, Comte de Tournay und einer der französischen Enzyklopädisten, beklagte sich bereits 1739 in seinen »Vertraulichen Briefen aus Italien an seine Freunde in Dijon« : »Canalettos Malart ist klar, heiter und lebendig[…], aber die Engländer haben diesen Künstler dadurch, dass sie ihm dreimal soviel für seine Bilder boten, wie er verlangte, derart verwöhnt, dass es unmöglich ist, mit ihm zu verwandeln.« Die betuchte britische Hocharistokratie wollte die akribisch topografische Veduten, die der Maler verblüffend scharf und realistisch mit Hilfe der Laterna Magica herstellte, um jeden Preis als »Souvenir« von ihrer »Grand Tour« mit in die heimischen Schlösser nehmen. Oder, so ist zu fragen, begann der Niedergang des venezianischen Orienthandels und Kolonialreiches nicht eigentlich schon im 16. Jahrhundert mit der Verlegung der Welthandelsrouten vom Mittelmeer über den Atlantik und der Flucht auf die »Terra ferma«? Ist deshalb die Seeschlacht von Lepanto 1571 nicht nur eine Galgenfrist gewesen?
Wie auch immer, es scheint so, als ob der Verfall der Seemacht und die morbide Faszination am Untergang ihrer einstigen Pracht mindestens ebenso lang andauerte wie die Zeiten des Aufstiegs zur Weltmacht. – Irgendwo zwischen den düster flackernden Maskenszenen eines Guardi und Thomas Manns Fin-de-Siècle-Novelle »Tod in Venedig« sind die Venedig-Gemälde des Friedrich Nerly anzusiedeln.
Selbstporträt 1828 Städel Museum
Sonnenuntergang auf der Lagune bei Venedig (um 1840) Copyright: Angermuseum Erfurt/Inv.Nr. 3084
Die Ausbildung des 1807 in Erfurt geborenen Malers war im besten Sinn konventionell und gründlich. Als Halbwaise kam Friedrich Nehrlich (wie er sich zunächst schrieb) nach dem Tode des Vaters sehr früh nach Hamburg. Dort lernte er im zarten Alter von acht Jahren in der Lithografenanstalt eines angeheirateten Onkels und dann unter dem Kunstpädagogen und Mäzen Carl Friedrich von Rumohr das genaue Zeichnen nach der Natur und unter freiem Himmel. Dieser war es auch, der den gerade 20 Jahre alt gewordenen und vielversprechenden Landschaftsmaler auf den Spuren Goethes in jenes südliche Land schickte, in welchem bekanntlich die Zitronen und die Kunst blühen. Gefördert von keinem geringeren Mentor als Joseph Anton Koch verbringt er dort sechs Jahre. Er entwickelt sich zum Mittelpunkt eines »deutschrömischen« Kreises von frühen Freilichtmalern in Rom und reist und arbeitet in Tivoli, Subiaco, Olevano und in der Gegend um Sorrent und Neapel. Erst nachdem er Rom den Rücken zugekehrt und ein zweijähriges Zwischenspiel in Mailand hinter sich hat, entdeckt er 1837 seine zweite Heimat Venedig. So weit, so konventionell.
Dann aber bindet ihn die Lagunenstadt nicht nur durch die Liebe und Heirat einer Frau, sondern vor allem durch die besondere Farbigkeit in einem einzigartig mildem Licht. Seit den Tagen der Bellinis ist dies innerhalb der italienischen Kunstmetropolen zum Markenzeichen der venezianischen Malerei geworden. Schnell entwickelt sich Nerly zum berühmtesten ausländischen Maler der Stadt. Hier arbeitet er nahezu 40 Jahre. Hier findet er, als »quasi un concittadino« (= sozusagen ein Mitbürger) anerkannt, an der Seite seiner geliebten Frau Agathe auf der Friedhofsinsel San Michele seine letzte Ruhestätte. Und hier wird sein Atelier sehr bald ebenso eine beliebte Anlaufstelle aller Welt- und »Geldreisenden« wie sein Stammplatz im Caffè Florian unter den Arkaden der Prokuratien auf dem Markusplatz. Im Palazzo Pisani (Sestiere San Marco) am Campo di San Stefano hatte sich der schwermütige Schweizer Maler Louis Léopold Robert 1835 umgebracht. Nachdem Nerly das Dominzil übernommen und das zweite »piano nobile« des etwas verfallenen, aber weiträumigen Gebäudes zu einer standesgemäßen Residenz ausgebaut hatte, konnte er hier im Laufe von vier Jahrzehnten so illustre Gäste wie den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. oder den württembergischen König Wilhelm I., den späteren russischen Zar Alexander II. oder den österreichischen Feldmarschall Josef Johann Radetzky logieren lassen. Nebenbei war er immer ein so guter Gesellschafter und Cicerone wie ein Maler, der ein untrüglich sicheres Gespür entwickelte für die künstlerischen Vorlieben seiner potenziellen Käufer. Er bediente deren romantische Erwartungen, und die waren damals wie heute in einer anachronistisch entrückten Stadt nun mal sehnsuchtsvoll rückwärts und schwärmerisch verklärend gerichtet. »Romantik – das ist die Sache mit dem Mond«, soll später Ödön von Horvath die Bedürfnisse etwas verkürzt auf den Punkt gebracht haben. Und insofern ist Nerly nicht nur ein Spätromantiker, sondern ein Epigone.
Doch es wäre zu kurz gegriffen, würde man Friedrich Nerly nur als Nachfolger des jüngst so ausgiebig gefeierten Caspar David Friedrich begreifen. Sicherlich tritt er mit seinen stillen »Nocturnes« wie C. G.Carus, J. Chr. Clausen Dahl oder Oehme in dessen Fußstapfen; aber er ist mehr als der Erfinder des »Venice by moonlight« – Klischees. – Ohne Zweifel, so wie bei Eichendorffs »Frischen Fahrten« immer die Postkutsche und niemals die längst verbreitete Eisenbahn gemeint ist, so zieht Nerly den zauberischen Mondschein dem längst verbreitetem Gaslicht vor. Schaut man genau hin, so setzt er damit einen literarischen Topos um, der sich auf Wilhelm Heinse und Goethe gründet und von August von Platen, C.F.Meyer bis hin zu Nietzsche und weit ins 20. Jahrhundert fortgeschrieben wurde. Bereits in Platens »Sonetten aus Venedig« aus dem Jahr 1824 hieß es beispielsweise: »Venedig bei leuchtendem Vollmondschein!/ Wie wonnig in wiegender Gondel zu sein! […] Paläste und Kirchen zu beiden Seiten/ Wie Geistergestalten vorübergleiten« .
Friedrich Nerlys Mondschein-Veduten der Lagunenstadt, insbesondere der Piazetta mit dem Blick über die Zwillingssäulen mit dem Markuslöwen und dem Hl Theodor hinüber zu San Giorgio Maggiore, haben »Lunas Zauberschein« (Goethe) ikonisiert: Mehr als dreißig Varianten dieser Ansicht hat der Maler nach 1838 angefertigt, und es gehört zu den aufschlussreichen Forschungsergebnissen der beiden AusstellungsmacherInnen, nicht weniger als 17 davon in den letzten Jahren ausfindig gemacht zu haben.
Kloster im Gebirge bei Subiaco (um 1833/35) Copyright: Angermuseum Erfurt/Inv.Nr. 3085
Die Veröffentlichung offenbart die großartige Qualität des bislang nicht genug gewürdigten Malers Nerly ebenso wie die Arbeit des erfolgreichen Agenten eines grenzüberschreitenden Kunsthandels, beschickte er doch regelmäßig die großen Ausstellungen in seiner Heimat mit seinen Bildern.
Claudia Denk, die den venezianischen Teil von Nerlys Nachlass und seine zahllosen Ölstudien als Münchner Gastwissenschaftlerin am Angermuseum bearbeitet hat, kuratierte die jetzige Ausstellung gemeinsam mit dem Erfurter Thomas von Taschitzki. Man kann ihre seit Jahren gemeinsame Aufarbeitung des Nerlyschen Œuvres und sein »Reframing« als »Landschaftsmaler, Reisender und Verkaufstalent« (so der Titel des bereits vor drei Jahren erschienenen Bandes im Deutschen Kunstverlag) nicht hoch genug loben. Sie haben für ide Zukunft den Referenzrahmen gesetzt, wenn auch das Modewort »Reframing« wohl andeuten soll: Nicht nur das in Venedig entstandene Werk, alle Bilder aller Lebensphasen und insbesondere der innovative Wert der zahlreichen Ölskizzen in situ sollten in einen umfassenden neuen Blick genommen werden. Nicht zuletzt die Selbstinszenierung eines Malerfürsten auf einem international gewordenen Kunstmarkt. Das ist auf überzeugendste Weise geglückt. Mindestens ebenso großartig ist in allen editorischen Belangen der Katalog der jetzigen Ausstellung.
Freilich, verglichen mit den Engländern Richard Bonington und vor allem William Turner, der Venedig dreimal besuchte, stieß Nerly nicht so wegweisend in die Moderne vor. Andererseits erscheinen doch die zahlreichen kleinen Ölstudien auf Papier, die Nerly auf seinen Streifzügen durch die Stadt zu jeder Tages- und Nachtzeit anfertigte, als ungemein frisch und somit wegweisend im Hinblick auf die impressionistische Pleinair-Malerei. Zugleich wurde der Maler auch ein Wegbereiter der realistischen Dokumentation des Denkmalverfalls der herrlichen venezianischen Architektur. Dies machte ihn zu einem Geistesverwandten von John Ruskin, dessen »Stones of Venice« zeitgleich den Verfall der Paläste beklagte: »Wie ein Stück Zucker im Tee, so schnell schmilzt Venedig dahin«.
Ironie der Geschichte: Mit einem spektakulären »Happening« machte Filippo Tommaso Marinetti am 27. April 1910 auf die modernistische Bewegung des »Futurismo« aufmerksam. Von der Spitze des Campanile (der acht Jahre zuvor in sich zusammengebrochen war) warf er Hunderte von Flugblätter ab mit dem Aufruf »Uccidiamo il chiaro di luna!«. Später erläuterte er sein Manifest mit den Worten: »Venezianer! Als wir riefen ‚Lasst uns den Mondschein töten!‘, dachten wir an das alte Venedig voller Romantik!« – Diese Attacke zielte direkt oder indirekt auf Nerly, den deutschen »straniero«, der es seit seiner Ankunft 1837 in der Lagunenstadt verstanden hatte, die geheimen Erwartungen der vielen vornehmen Besucher aus der Fremde zu bedienen. – Offen bleibt die Frage, ob Venedig eher von mondscheinsüchtigen Romantikern als von rastlosen und rasenden Zeigenossen den Todesstoß versetzt bekommen wird.
Friedrich Nerly – Von Erfurt in die Welt. Die Gemälde und Ölstudien des Nerly-Bestandes im Angermuseum Erfurt
Herausgegeben von Claudia Denk, Kai Uwe Schierz und Thomas von Taschitzki
Deutscher Kunstverlag (DKV)
Berlin und München 2024
gebundene Ausgabe mit 560 Seiten
Abmessungen: 26.16 x 4.32 x 29.21 cm
ISBN-10 : 3422802576
ISBN-13 : 978-3422802575
Preis: 62 €
Die Ausstellung ist bis zum 20. Juli dieses Jahres im ersten Galeriegeschoss in etwas reduzierter Form verlängert worden