„Rooted“ im Brainlab, München

Die Ausstellung „Rooted“ präsentiert Werke brasilianischer Künstlerinnen, die alle ein Mensch-Natur-Bezug verbindet. In ihren fünf Sektionen werden die vielseitigen metaphorischen Aspekte von „Wurzeln“ diskutiert. Die 16 zeitgenössischen Künstlerinnen knüpfen mit dieser Naturverbundenheit an eine Art „Tropischen Expressionismus“ an, den Tarsila do Amaral, Pionierin des brasilianischen Modernismus und ebenfalls in dieser Ausstellung vertreten, vor einem halben Jahrhundert geprägt hat.


Die fünf Sektionen der Ausstellung – Herkunft,
Identität, Verbundenheit, Natur und Nachhaltigkeit .

Wurzeln haben die Aufgabe, Pflanzen mit Nährstoffen zu versorgen und sie im Boden zu verankern. Verwurzelt zu sein impliziert somit sowohl Stabilität und einen Sinn fürVerankerung als auch die Möglichkeit, Zugang zu den notwendigen Mitteln für Entwicklung und Wachstum zu haben. Doch was braucht es eigentlich, um verwurzelt zu sein? Woraufkommt es an? Was verankert uns? Nach einem Besuch der Ausstellung „Rooted“ im Brainlab München hallen diese Fragen lange nach. Die fünf Sektionen der Ausstellung – Herkunft, Identität, Verbundenheit, Natur und Nachhaltigkeit – präsentieren Gemälden, Installationen und Skulpturen, in denen das Thema des Verwurzelt-Seins über die Beziehung zwischen Menschen und Natur verhandelt wird. Kuratiert von Tereza de Arruda versammelt „Rooted“ Werke brasilianischer Künstlerinnen – teils aus der Sammlung Vilsmeier-Linhares, teils eigens für die Ausstellung geschaffen. „Rooted“ versteht sich als Fortsetzung der Ausstellung „Unrooted“ (2024).

Larissa de Souza Ibeji, 2023, Acrylfarbe, Applikationen, Bonbonpapier und Glitzer auf Leinen. Sammlung Vilsmeier – Linhares. Foto: Pressemitteilung Brainlab

Carmézia Emiliano, Harvesting Buriti, 2014, Sammlung Vilsmeier – Linhares. Foto: Pressemitteilung Brainlab

Wurzel und Identität

Eine erste Herausforderung stellt sich: Was bedeutet es, „Wurzeln zu haben“ in einer Nation,
deren Geschichte durch Kolonisation und spätere Migrationsbewegungen geprägt – und lange
Zeit nicht aufgearbeitet – wurde? Die indigene Präsenz etwa wurde lange verdrängt, angelehnt
an Debatten, die indigene Völker pauschal als „Wilde“ abtaten. Ebenso wurden afrikanische
Wurzeln systematisch marginalisiert. Wie also kann und soll eine Nation ihre Wurzeln
thematisieren? Mit dieser Problematik setzen sich die Künstlerinnen der Ausstellung
auseinander – allesamt Vertreterinnen der zeitgenössischen Kunstszene, mit Ausnahme vonTarsila do Amaral (1886–1973), die als eine der zentralen Figuren des brasilianischen
Modernismo gilt.

Amaral bietet einen passenden Einstieg in die Auseinandersetzung mit Identität in der bildenden Kunst. Die ausgestellte Radierung ihres ikonischen Werkes „Abaporu“ (1928) – wohl das bekannteste Gemälde Brasiliens – veranschaulicht diese Auseinandersetzung. In dem
gleichnamigen Gemälde, das sich im Malba-Museum befindet, steht die rätselhafte Figur mit
dem übergroßen Fuß fest auf dem Boden. Hintergrund, Kaktus und Sonne erinnern farblich an
die brasilianische Landschaft und Nationalflagge. Diese Farbdimension fehlt zwar in der
Radierung, was das Werk auf den ersten Blick im Vergleich zu anderen Exponaten vielleicht
vager oder herausfordernd erscheinen lässt. Doch mindert dies nicht seine Aussagekraft. Denn
„Abaporu“, in der indigenen Sprache Tupi-Guarani „der Menschenfresser“ bzw. „der, der isst“,
thematisiert Identität auf fundamentale Weise. Amaral konzipierte „Abaporu“ – ebenso wie „A
Negra und Antropofagia“ – unter dem Einfluss europäischer Künstler; selbst Dürers „Melencolia I“ scheint darin nachzuhallen. Zugleich ließ sie sich von ihren Kindheitserinnerungen in
Brasilien inspirieren. Diese Einflüsse „verschlang“ sie – im Sinne der Antropofagia –, um etwas
Neues zu schaffen. Der melancholische Kannibale ohne Mund wurde zur Schlüsselfigur einer
Bewegung, die lange vor post- oder dekolonialen Diskursen nach einem neuen Umgang mit
Kunst- und Kulturgeschichte suchte. Amarals Präsenz in der Ausstellung sowie die sparsamen
Linien ihrer Radierung verweisen auf frühe künstlerische Auseinandersetzungen mit nationaler
Identität.