Meldungen zu Buch und Medien

«Kollwitz» – zu der kürzlich zu Ende gegangenen Ausstellung im Frankfurter Städel

«Kollwitz» – zu der kürzlich zu Ende gegangenen Ausstellung im Frankfurter Städel Die kürzlich im Frankfurter «Staedel» zu Ende gegangene Ausstellung, die ganz schlicht und mit durchaus passender Spödigkeit mit nichts als dem Nachnamen «Kollwitz» betitelt wurde, versprach nicht die Wiederentdeckung einer Künstlerin. Das wäre auch unmöglich, denn dazu ist und war sie immer zu präsent. Im Gegenteil: in seiner Besprechung fragte sich Peter Neumann von der Wochenzeitung «Die Zeit» (13/2024): «Frankfurt, New York, Kopenhagen – plötzlich stürzen sich alle auf die Künstlerin Käthe Kollwitz. Was passiert da gerade?» – Und er beantwortete die aufgeworfene Frage selbst, indem er feststellte, mit ihren über 110 Arbeiten habe die Ausstellung keine Neuentdeckung vorgeben wollen, sondern lediglich eine Neubeleuchtung. Walter Kayser hat den Katalog studiert und sich ein eigenes Bild gemacht.

Käthe Kollwitz (1867–1945) Selbstbildnis mit aufgestütztem Kopf 1889/91 Feder und Pinsel in Sepia auf Bütten 200 x 160 mm Käthe Kollwitz Museum Köln © Städel Museum
Käthe Kollwitz (1867–1945) Selbstbildnis mit aufgestütztem Kopf 1889/91 Feder und Pinsel in Sepia auf Bütten 200 x 160 mm Käthe Kollwitz Museum Köln © Städel Museum

Sie galt in der westdeutschen Nachkriegszeit als christlich-bürgerliches Idol und empathische, sich aufopfernde Mutter, als vorbildliche humanistische Größe. Zeitgleich jedoch reklamierte die DDR diese Käthe Kollwitz für sich. Hier war sie eine wichtige Vorreiterin des Arbeiter- und Bauernstaates und wurde entsprechend als kommunistisches Aushängeschild von nationaler Größe gefeiert. Eine Folge ihrer ungeheuren Beliebtheit führte dazu, dass gleich zwei Museen sich mit dem Lebenswerk der großen Grafikerin beschäftigen, eines im Herzen Kölns am Neumarkt und eines in Berlin, wo sie immerhin 40 Jahre ihres Lebens in einer 4-Zimmer-Wohnung auf dem Prenzlauer Berg gelebt hatte. Hinzu kommt eine kleinere Gedenkstätte auf dem «Rüdenhof» an den Moritzburger Seen bei Dresden, wo die ausgebombte Künstlerin eine Woche vor dem Ende des 2. Weltkriegs verstarb.

Ist es die von Krieg, Inflation, Armutsmigration und einer sich verdüsternden Zukunftsperspektive krisengeschüttelte Gegenwart, welche das gegenwärtige Interesse an dieser Frau wieder einmal weckt? Immerhin war ihr Leben von zwei Weltkriegen und einer zwischen antidemokratischen Kräften fast aufgeriebenen Republik geprägt. - Sicherlich auch. Aber nicht nur.
Die Frage «Wer war die Künstlerin wirklich?» ist so unsinnig wie die Behauptung, dass sie ihre Elendsthemen im proletarischen Milieu «realistisch», sozusagen eins zu eins wiedergegeben habe. Ist doch Kunst immer eine inszenierte Parallelwelt, und gerade die Vielschichtigkeit und bewundernswerte Eigenständigkeit dieser Künstlerin erlauben es höchstens, danach zu fragen, welche vielleicht neuen Blickwinkel in der zeitgenössischen Rezeption in den Mittelpunkt gerückt werden.

Käthe Kollwitz (1867–1945) Zwei Studien einer Arbeiterfrau 1910 Schwarze Kreide auf Bütten 624 x 480 mm Sammlung David Lachenmann © Städel Museum
Käthe Kollwitz (1867–1945) Zwei Studien einer Arbeiterfrau 1910 Schwarze Kreide auf Bütten 624 x 480 mm Sammlung David Lachenmann © Städel Museum

Dass Frankfurt in den letzten Wochen zum wiederholten Male mit einer beeindruckenden monografischen Schau aufwarten konnte, verdankt es im Wesentlichen dem Ehepaar Hedwig und Helmut Goedeckemeyer. Noch 1936, mitten in der Verfemung nahezu jeder wegweisenden künstlerischen Arbeit als «entartet», hatte dieser Privatsammler den Mut, eine Kollwitz-Ausstellung organisieren; und auch nachdem das Städel 1964 seine umfangreiche Grafiksammlung an französischer und deutscher Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts bereits erworben hatte, behielt er sich Eines vor: Bis zu seinem Tod (1983) wolle er mit den Bildern eben dieser Kollwitz in seinen Privaträumen umgeben bleiben. Hinzu kommt, dass momentan das Kölner Kollwitz-Museum wegen Umbaus geschlossen ist und etliche Leihgaben von dort zur Verfügung gestellt werden konnten.

Regina Freyberger, zuständig für die moderne Grafikabteilung des Frankfurter Städels und zugleich Kuratorin und Herausgeberin des bei Hatje Cantz veröffentlichen Katalogs, ging es vor allem um zweierlei: Zum einen wollte sie die Sichtweise auf die Kollwitz von allzu eingefahrenen Klischees und Zuschreibungen befreien; zum anderen (und eng damit verbunden) lenkte sie den Blick von den inhaltlichen auf die formal-ästhetische Aspekte.
Gegen das von der Rezeptionsgeschichte geradezu verstellte Bild der Künstlerin ist nicht deutlich genug ihre Eigenständigkeit zu betonen. In ihren posthum herausgegebene Tagebüchern notierte am 3. 12.1922 Käthe Kollwitz den häufig zitierten Satz »Ich bin einverstanden damit, dass meine Kunst Zwecke hat. Ich will wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind.« Das macht sie aktuell, denn vieles lässt uns in die 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts wie in einen fernen Spiegel zurückblicken.

So wenig ihr die unverfängliche (und unverbindliche) Position des «l'art pour l'art» lag, so wenig sie zumal die allgemeine Erwartungshaltung an eine Frau erfüllte, sich etwa mit harmlosen Landschaftsbildern, süßen Kinderporträts in idyllischer Mutterschaft oder Stillleben zu begnügen, so wenig ließ sie sich parteipolitisch einfangen und ideologisch vereinnahmen. Zweifellos galt das künstlerisches Bemühen stets einem mutigen Engagement, und ebenso zweifellos war dieses aufgeklärt links, zumal in Sachen Pazifismus und Kampf für die Hungernden und Entrechteten. Dennoch trat sie nie in eine Partei ein oder verschrieb sie sich einem «-Ismus». Verstörend auf manche Zeitgenossen wirkte es auch, wenn sie die geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen durchkreuzte und in ihrer Formensprache «weibliche Empathie» mit «männlicher» Ausdruckskraft vereinte.
Ob die Entscheidung, sich sehr früh von der weitaus höher angesehenen Malerei abzuwenden und sich ganz und gar den verschiedenen grafischen Techniken und der Bildhauerei zu verschreiben, eine ästhetische war oder doch darauf zurückzuführen ist, dass sie sich so freier äußern und größere Wirkung erzielen konnte, ist letztlich nicht zu klären. Katharina Koselleck, die neue Leiterin des Kölner Kollwitz-Museums, versucht in ihrem Beitrag zum Einsatz der Farbe im Werk auf einen bislang nahezu übersehenen Aspekt hinzuweisen. Dennoch, die Verwendung unterschiedlicher Papiere und Druckfarben wird wohl für immer ein untergeordneter Gesichtspunkt bleiben.

Käthe Kollwitz (1867–1945) Pariser Kellerlokal 1904 Kreide und Gouache auf Bütten 472 x 476 mm bpk / Sprengel Museum Hannover, Vermächtnis Konrad Wrede, Hannover (1947) / Herling/Gwose/Werner © Städel Museum
Käthe Kollwitz (1867–1945) Pariser Kellerlokal 1904 Kreide und Gouache auf Bütten 472 x 476 mm bpk / Sprengel Museum Hannover, Vermächtnis Konrad Wrede, Hannover (1947) / Herling/Gwose/Werner © Städel Museum

Ganz deutlich aber ist, wie exzeptionell die angeborene und früh entwickelte Begabung für den sicheren Strich, für eine einzige, ohne Absatz durchgezogene Linie bereits vor der Jahrhundertwende ausgeprägt war. In einer Zeit, in der Frauen noch nicht bzw. nicht mehr an Kunstakademien zugelassen wurden, musste sie sich an privaten Kunstschulen in Königsberg, dann München selbstständig Anregungen holen. Entscheidend wurden auch zwei Reisen der jungen Frau nach Paris, wo sie nicht nur Rodins Atelier in Meudon besuchte, sondern auch eine Picasso-Zeichnung erwarb.
Den größten Anteil an ihrer Ausbildung und ihren frühen Erfolgen hatte aber die autodidaktische Lust am fortwährenden Experimentieren und Fortentwickeln einer eigenen Formensprache. Wenn sie auch nie eine revolutionäre Formzertrümmerin im Stil der Kubisten oder «Brücke»-Maler wurde, so schärfte sie doch noch vor ihrer Heirat mit dem Kassenarzt Karl Kollwitz 1891 ihr Ausdrucksrepertoire immer weiter.

Im Arbeitermilieu suchte sie das Authentische und Unverfälschte. In existenziellen Grunderlebnissen suchte sie den allgemeinmenschlichen Ausdruck. Immer war sie auf der Suche nach einem erweiterten Wahrheitsbegriff, der auch das Hässliche, Verzerrte und Animalische ungeschönt gelten ließ. «Le laid c’est le beau» (= Das Hässliche ist das Schöne) ist zunächst kein soziales, sondern ein ästhetische Programm der französischen Vorläufer seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und dann insbesondere unter den so genannten «Naturalisten».

Käthe Kollwitz (1867–1945) Losbruch Blatt 5 aus dem Zyklus Bauernkrieg 1902/03 Strichätzung, Kaltnadel, Aquatinta, Reservage sowie Vernis Mou mit Durchdruck von zwei Stoffen und Zieglerschem Umdruckpapier auf Velinpapier Blatt: 656 × 784 mm Städel Muse
Käthe Kollwitz (1867–1945) Losbruch Blatt 5 aus dem Zyklus Bauernkrieg 1902/03 Strichätzung, Kaltnadel, Aquatinta, Reservage sowie Vernis Mou mit Durchdruck von zwei Stoffen und Zieglerschem Umdruckpapier auf Velinpapier Blatt: 656 × 784 mm Städel Muse

Das alles machen schon die beiden Zyklen deutlich, mit denen die gerade einmal 30-Jährige schlagartig berühmt wurde: Die Radierungen zu Gerhart Hauptmanns «Webern», deren Uraufführung am 26. Februar 1893 sie tief erschüttert miterlebte, und die zum «Bauernkrieg» von 1524/25. Für Kaiser Wilhelm II. waren solche Werke «Gossenliteratur» und «Rinnsteinkunst». Empört reagierte auf den Vorschlag, die junge Käthe Kollwitz für ihren «Weber»-Zyklus auszuzeichnen: «Ich bitte Sie, meine Herren, eine Medaille für eine Frau, das ginge denn doch zu weit. Das käme einer Herabwürdigung jeder hohen Auszeichnung gleich. Orden und Ehrenzeichen gehören auf die Brust verdienter Männer.»
Interessant ist, dass beide Grafikzyklen drei Momente gemeinsam haben: Sie beschäftigen sich mit Erhebungsversuchen, welche um 1900 zeitlich weit zurücklagen. Somit suchen sie die ästhetische Distanz und spielen nur indirekt auf das Elend des modernen Industrieproletariats an. Die Künstlerin nimmt zudem ausschließlich die Opferperspektive ein. Sie konzentriert sich auf den aussichtslosen Kampf und das ohnmächtige Scheitern der «Erniedrigten und Beteiligten» aller Zeiten. Dabei inszeniert sie die dramatisch aufwühlenden, alles entscheidenden Augenblicke, in welchen der Mensch auf sich zurückgeworfen wird und sich in seinem vitalistischem Kern zu erkennen gibt. «Grenzsituationen erfahren und existieren ist dasselbe», war die Überzeugung des Philosophen Karl Jaspers. - Käthe Kollwitz hat fast ausnahmslos solche Grenzsituationen wie Tod, Geburt, Hunger, Unterdrückung und Krieg thematisiert. Sie führt damit zugleich in beiden Grafikzyklen vor Augen, was Aristoteles mit dem Begriff des «Tragischen» verband: die unlösbare Verkettung von Mitleid und Furcht eines tief verletzten Gerechtigkeitsempfindens.

Wie sehr die Künstlerin am Vokabular ihrer früh entwickelten Bildsprache stets erneut feilte und den expressionistischen Ausdruck aufs Äußerste zu steigern bemüht war, wurde in der Frankfurter Ausstellung exemplarisch am Beispiel des dritten Blattes des «Bauernkriegs»-Zyklus deutlich: Während die «schwarze Anna» eine Sense dengelt, erwächst in ihr aus ohnmächtiger Wut der Entschluss zur Revolte.
Die ursprüngliche Bildidee wird in den Jahre 1904 bis Mai 1905 in vielen Formulierungsansätzen immer wieder überarbeitet. Mit anderen Worten: Nur der Glücksfall, dass den Kuratorinnen eine Vielzahl von Zeichnungen und «Zustandsdrucken» zur Verfügung stand, ermöglichte diesen Einblick in den Schaffensprozess. Es ist ein «work in progress», das mit Detail-Bleistiftskizzen und Kohlezeichnungen seinen Ausgang nimmt und in komplexen Radierverfahren, welche Kaltnadel-, und Weichgrundätzungen verbinden, mündet. Die kreativen Zwischenschritte geben zu erkennen, was die Künstlerin im kreativen Blindflug zielsicher ansteuerte. Sie suchte die zugespitzte Komposition, veränderte mehrfach das Format, strich die als unzureichend empfundenen Vorstudien energisch mit einem Rotstift aus, bearbeitete die Kupferplatte mit Schmirgelpapier und tilgte ganze Partien, versuchte etwa die Wirkung einer neuen Armhaltung, indem sie kurzerhand vorläufige Abzüge überklebte. Die Ausführungen im Katalog dazu lassen zwei Grundprinzipien erkennen, die bislang nicht genügend berücksichtigt wurden. Zum einen streift die Kollwitz (anders als der von ihr bewunderte Kollege und Mentor Max Klinger) mit der Zeit alle symbolistischen Anklänge ab. So verschwindet die zweite Figur eines Geistwesens im Hintergrund, eine Art Nachtmahr, welcher ursprünglich der Bäuerin die Idee eingab, völlig. Nur das animalisch verzerrte Gesicht der früh gealterten Frau mit ihren unzugänglich geschlossenen Augenlidern, verschanzt hinter dem scharfen Sensenblatt als horizontaler Kompositionsbarriere, und ihre riesigen Hände rücken in den Vordergrund. Ja, sie werden in einer Weise zu einer «Großaufnahme herangezoomt», wie wir es nur vom Film kennen. Indem sie in größter Nähe das Geschehen einfängt, erlaubt die Künstlerin dem Betrachter keine Distanzierung. Zwingend inszeniert sie die emotionale Unausweichlichkeit und Erschütterung.

Käthe Kollwitz (1867–1945) Brustbild einer Arbeiterfrau mit blauem Tuch 1903 Kreide- und Pinsellithografie mit Schabeisen im Zeichenstein in zwei Farben (Blau und Braun) auf Velinpapier Darstellung: 345 × 316 mm Städel Museum, Frankfurt am Main © Städel
Käthe Kollwitz (1867–1945) Brustbild einer Arbeiterfrau mit blauem Tuch 1903 Kreide- und Pinsellithografie mit Schabeisen im Zeichenstein in zwei Farben (Blau und Braun) auf Velinpapier Darstellung: 345 × 316 mm Städel Museum, Frankfurt am Main © Städel

Linda Baumgartner, ebenfalls am Städel arbeitende Kunsthistorikerin, zeigt in einem ihrer Beiträge auf, wie tatsächlich die Bildsprache der neuen technischen Medien Fotografie und Film die Künstlerin beeinflussten und wie andererseits ihre eigenen Bildideen in unterschiedlichen Techniken weiterlebten. Ob Pinselzeichnung, Holzschnitt, Radierung und Lithografie oder im plastischen Arbeiten, - die Entwürfe zum selben Thema treten in Wechselwirkung miteinander und befruchten sich über Jahre hinweg. Das lässt sich vielleicht am deutlichsten am Motiv der trauernden Eltern zeigen. Es wurde nicht nur in der Plastik verwirklicht, die 1932 auf dem belgischen Soldatenfriedhof aufgestellt wurde, auf welchem die Gebeine ihres gleich beim ersten Sturmlauf im Oktober 1914 gefallenen Sohnes Peter ruhen. Noch offensichtlicher tritt das beim Motiv der Mutter mit totem Kind zutage, welches natürlich die Bildgattung der spätmittelalterlichen Pietà fortführt. - Nebenbei: Ein markanter Punkt der deutsch-deutschen Rezeptionsgeschichte besteht darin, dass in Schinkels Neuer Wache Unter den Linden dem Wunsch Helmut Kohls entsprochen wurde und hier ein vergrößerter Guss eben dieser kleinen Pietà aufgestellt wurde. - Sie gilt nun seit 1993 offiziell als «Zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.» - Nach der deutschen Wiedervereinigung ist das eine umstrittene Form der Einvernahme und Erinnerungskultur geblieben, nicht nur, weil Kohl, wohl ohne es zu bemerken, damit ausgerechnet eine Idee der untergegangenen SED wieder aufgriff. Der christliche Bildtypus schließe alle jüdischen Holocaust-Opfer aus, sagten nicht ganz zu Unrecht Kritiker wie Reinhart Koselleck, Aleida und Jan Assmann. Denn «die Gaskammern und Erschießungskommandos haben keine trauernden Mütter zurückgelassen».

Cover @ Hatje Cantz
Cover @ Hatje Cantz

Käthe Kollwitz war sich bewusst, dass sie kompromisslos ihren eigenen Weg gehen wollte und musste. Das erfassten schon ihre Zeitgenossen und zollten ihrer Gradlinigkeit und künstlerischen Integrität entsprechend früh Anerkennung. Unter feministischem Gesichtspunkt war sie in mancherlei Hinsicht Pionierin in einer männerdominierten Umgebung: Sie war die erste Frau, die in den Vorstand der «Berliner Sezession» gewählt wurde. 1919 wurde sie, wiederum als erste Frau, zum ordentlichen Mitglied der Akademie der Künste und zur Professorin ernannt; zehn Jahre später bekam sie, erneut als erste Frau, den Orden «Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste» verliehen.
Vielleicht ist nur von daher zu erklären, dass sie an die hundert Selbstbildnisse angefertigt hat (in diesem Punkt ist sie Rembrandt, van Gogh oder auch Picasso vergleichbar). Sind doch Selbstbildnisse Zeugnisse einer andauernden Orientierung und Selbstvergewisserung auf dem eigenen Weg. Gleichzeitig hat die Kollwitz ganz offensichtlich diese Gattung nicht als privates Zwiegespräch angesehen, welches nicht unbedingt auf den Kunstmarkt gehört. Sie ist im Gegenteil davon ausgegangen, dass die zur Schau gestellte Subjektivität und Identitätssuche von öffentlichem Interesse und gewissermaßen repräsentativ für ihre ganze Zeit ist. In ihren intimen Selbstbefragungen liegt niemals etwas Gefälliges. Immer wirkt sie grundehrlich, herb, spröde, manchmal müde und resigniert, nie larmoyant, stets uneitel und oft auch von erschreckender Virilität.
Der Ausschnitt ist auch hier extrem nah und meistens «en face» gewählt. - Unberührt ausweichen kann man ihr auch heute nicht.


Kollwitz
Ausstellungskatalog des Frankfurter Städel-Museums
Herausgeberin: Regina Freyberger
mit Beiträgen von Linda Baumgartner, Regina Freyberger, Gudrun Fritsch, Alexandra von dem Knesebeck, Katharina Koselleck, Andreas Schalhorn, Iris Schmeisser

304 Seiten mit 292 Abb.
Format 23 x 28 cm
Klappenbroschur
ISBN 978-3-7757-5583-2 (Deutsch)
Hatje Cantz-Verlag, Berlin 2024
Preis: 58 €

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns