Rezensionen

Kunsthalle Emden/Lisa Felicitas Mattheis (Hg.): Mythos Wald. Das Flüstern der Blätter. Wienand Verlag

Der Wald strahlt nicht nur in den Märchen der Gebrüder Grimm etwas einzigartig Geheimnisvolles aus. Mal dunkel bedrohlich, dann wieder als grüne Oase und Lichtfilter einer lieblichen Aura gerühmt, ist der Wald vor allem eines: Für die Menschen ein Reservoir der Natur, Lebensspender und Helfer der Psyche wie der Physis. Ein Natur- wie auch ein spirituelles Erlebnis ist hier jederzeit gegeben. Dichter aller Länder haben sich der Beschreibung des Waldes gewidmet wie auch Komponisten aller Zeitalter den Wald als Inspiration ihrer Lieder, Sonaten und Töne rühmten. Sogar die Wissenschaft spricht vom Wald als der „grünen Lunge“, womit er wahrlich zum Inbegriff des Lebens avanciert. Vor allem aber waren es die bildenden Künstler, die den Wald in seinen unterschiedlichsten Farbtönen in Zeichnungen und Gemälden, Reliefs, als Vasenbilder und vieles mehr verewigten. Der Wald als ein Universum für sich, als ein Ort des scheinbar immerwährenden Lebens. Melanie Obraz hat dem Flüstern der Blätter Gehör geschenkt.

Cover © Wienand
Cover © Wienand

Hehre Worte sind dem Wald gewidmet worden - Spiritualität wie Majestas spiegeln sich in seiner Naturschönheit. Auch deshalb gilt der Wald doch als eine Kathedrale der Natur. Erhabenheit, Religiosität, Spiritualität, Schönheit, Glanz, all diese Begrifflichkeiten fanden für die Beschreibung des Waldes Verwendung. Auch ein Weltstar der Kunst des 20. Jahrhunderts Joseph Beuys ist mit einem Zitat vertreten: „Die Bäume sind nicht wichtig, um dieses Leben auf der Erde aufrecht zu erhalten, nein, die Bäume sind wichtig, um die menschliche Seele zu retten.“ Auf jeden Fall aber ist der Wald mehr als nur eine Ansammlung von Bäumen. Ein faszinierendes Ökosystem ohnehin und eben auch noch dem Menschen seelenverwandt?

Der Katalog widmet sich speziell 43 Künstlern:innen von Almond Darren, Lovis Corinth, über Otto Modersohn, Gabriele Münter, bis zu Max Uhlig und Brigitte Waldach, um nur einige der Kunstschaffenden zu nennen. Für die Dichtkunst stehen unter anderem Hugo von Hofmannsthal, Ricarda Huch oder Joseph von Eichendorff neben Erich Kästner, Auguste Kurs, Heinrich Heine und Lutz Rathenow. Sie interpretieren den Wald in wahrer Verdichtung dessen, was dort jeweils in stets wandelnder Art sichtbar wird. Dichtkunst und bildende Kunst vereinen sich so in einer Symbiose und vermitteln damit „das“ Fluidum des Waldes.

Gabriele Münter, Herbstbäume bei Tutzing, 1908, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Gabriele Münter, Herbstbäume bei Tutzing, 1908, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Die Oase Wald wird damit in Bildern repräsentiert, welche in einer unvergleichlichen Inszenierung das Naturphänomen aufleben lassen, um hiermit gleichzeitig eine Dokumentation vorzulegen. Vor allem ist es der Ort der Ruhe und Idylle, ohne die wilde Natur je einbüßen zu müssen. In früheren Zeiten stand er im Gegensatz zur zivilisierten und schließlich industrialisierten Welt für eine Wildheit, gepaart mit Unwegsamkeit und Gefahr. Der Wald war schließlich die Heimat der Wölfe, der Bären und nicht zuletzt der Räuber. Abgeschiedenheit und die selbst gesuchte Alleinheit mit Natur und Geist bot sie den Eremiten und später den Gurus und bis in die heutige Zeit auch den Spiritualisten. Doch zeigt das Buch auch den Wald als einen wunderschönen Ort, den Künstler:innen in ihrer Malerei in eben jener Naturschönheit einzufangen suchten. Zunächst erschien er in der Gotik und Renaissance noch nicht als Thema für sich, sondern fristete zunächst ein Dasein als Beiwerk. Doch das sollte sich bald ändern.

Doug & Mike Starn Structure of Thought # 6, 2001, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Doug & Mike Starn Structure of Thought # 6, 2001, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Der Wald ist ja im Unterschied zur Landschaft von höchst eigener Art und so kam bald eine spezielle Sichtweise auf, die jenen zunächst so wilden Wald als ein Phänomen zur Schau zu stellen wusste. Es galt einen Lebensraum darzustellen, welcher für Freiheit und einen herausragenden Typus einer höchst eigenen Landschaftsform wahrgenommen werden konnte. Dies verlangte eine künstlerische Neu- bzw. Umorientierung. So steht er nicht nur für die Erfahrung des Mythologischen, des Religiösen oder Allegorischen. Man dachte zunehmend praktischer und sah den Wald als Erholungsgebiet, zumal sich Rodungen und somit der Raubbau an der Natur bald nicht mehr verhehlen ließen.

Max Ernst, Der Wald, 1927, Öl auf Leinwand, 140 × 173 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Max Ernst, Der Wald, 1927, Öl auf Leinwand, 140 × 173 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022


Doch lud der Wald nicht immer schon zur Selbstbesinnung ein? War er nicht stets ein wahrer Hort, um der Seele zur Gesundung zu verhelfen? Im 19. Jahrhundert zeigte sich der Wald in der Malerei als eigenständiges Thema und die Freiheit gewann nun die Oberhand und begeisterte den Menschen von nun an immer wieder aufs Neue. Es geriet alles in den Strudel einer Waldeslust. Schließlich bot der Wald auch eine „Projektionsfläche für nationale Identität“. Damit zeigte sich bald eine ganz andere Gefahr – jene, die sich am Recht des Stärkeren orientierte. Aber schließlich lässt sich im 20. Jahrhundert eine neue Form der Kreativität hinsichtlich eines Waldschutzes bekunden, der mit einer Idee der Sozialen Plastik bei Joseph Beuys überein kommt. Der Wald ist als lebender Organismus nicht nur Garant für eine gesunde Sauerstoffaufnahme, sondern steht ebenso für das Aufkommen eines Gefühls, welches eine Wertigkeit besitzt, die den Menschen wohltut.

Alexander Zick, Hänsel und Gretel, in: Märchen, Grot’scher Verlag, Berlin 1975, © bei den Künstlerinnen und Künstlern oder deren Rechtsnachfolgerinnen und Rechtsnachfolgern
Alexander Zick, Hänsel und Gretel, in: Märchen, Grot’scher Verlag, Berlin 1975, © bei den Künstlerinnen und Künstlern oder deren Rechtsnachfolgerinnen und Rechtsnachfolgern

So verdeutlichen die Autoren:innen des Buches, dass Natur und die so vieldeutige und oft missverstandene Kultur nicht getrennt sein dürfen. Es ist wichtig, dass der Wald heute nicht mehr nur als eine Art Sonderbezirk gesehen wird, sondern dass jener wieder zum Menschsein direkt dazugehört. Damit ruft der vorliegende Band „Mythos Wald“ dazu auf, jenen eben nicht nur als Mythos wahrzunehmen. Unsere grüne Oase darf also nicht nur verherrlicht werden, um dann in „Öko-Nischen“ ein doch eher trostloses Dasein zu fristen. Sehr eindringlich wird hier auch der Soziologe Hartmut Rosa zitiert.
Den Autoren:innen zufolge gilt es, den Blick sehr tief in den Wald zu senken, damit nicht ausschließlich die Interpretationen des schönen grünen Etwas gesehen werden. Fatal wäre es doch, wenn der Wald zu einem Etwas herabsinken würde, da man hier nur eine Exklave der Natur sieht, einen Restbestand, den man womöglich im Ganzen nicht mehr retten kann und welcher bereits rettungslos verloren ist. Der zweite Teil des Bandes bekundet dann auch recht eindringlich in vielen Bildern (Zeichnungen, Gemälden etc.) das Eigentümliche als Spezifikum des Waldes, gibt es ja nicht nur den Wald, sondern die vielen Wälder.

Katharina Grosse, Ohne Titel (Edition), 1997, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Katharina Grosse, Ohne Titel (Edition), 1997, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022

Damit ist das Buch allen gewidmet, die dem Fluidum des Waldes begegnen möchten. Hier spiegeln die Malerei, die Zeichnung, die Fotografie alle dem Wald gewidmeten Facetten. Das Wort – das Gedicht, die kunstvolle Beschreibung – vereint sich mit dem Blick in und aus dem Wald. So kann der grüne Tann dann ein Sehnsuchts- und Rückzugsort bleiben, da wir ihn nicht nur als ausschließlichen Ort der Sehnsucht sehen, sondern als schützenswerte Grundlage des menschlichen Lebens. Letztendlich kulminiert die Brillanz des lesenswerten wie sehenswerten Buches auch in diesem Apell.

Mythos Wald. Das Flüstern der Blätter
Katalog zur Ausstellung in der Kunsthalle Emden
herausgegeben von Kunsthalle Emden, Lisa Felicitas Mattheis
Verlag Wienand
Beiträge von Heinrich Heine, Ricarda Huch, Erich Kästner, August Kurs, Barbara Martin, Conrad Ferdinand Meyer, Lutz Rathenow, Viktoria Urmersbach, Joseph von Eichendorff, Hugo von Hofmannsthal, Christian Wagner, Paul Zech
176 Seiten
mit 88 farbigen und 12 s/w Abb.
ISBN 978-3-86832-669-7

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